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    Freitag, 10. September 2021, 11:47

    Leben im anderen Deutschland - Die 60er Jahre in der DDR (I)

    Wenn ich als Jungspund in den 70er Jahren von Freunden gefragt wurde, welche Reiseziele denn noch lohnenswert seien, antwortete ich oft: " Wenn ihr wahre Exotik erleben wollt, fahrt in die DDR !" Und dies, obwohl Reisen in den Arbeiter- und Bauernstaat nicht ganz einfach waren, sofern man dort nicht verwandtschaftliche Bindungen hatte und dadurch die Einreiseformalitäten vereinfachen konnte. Auch ein Visum für den Besuch der Leipziger Messe wurde, zumindest seit den 70ern, oft weitgehend problemlos gewährt.
    Die "Exotik" der DDR ergab sich aus vielerlei Gründen: bereits der Geruch war dort oft anders, bedingt durch die zahllosen Zweitaktermotoren und die Braunkohlefeuerung. Auch die "Plaste und Elaste aus Schkopau" roch deutlich anders als unsere damaligen Westkunststoffe. Dazu kamen die zahlreichen politischen Parolen an den Gebäuden und die vielen mehr oder weniger verwahrlosten Altbauten in den Innenstädten, die sofort ins Auge stachen. Auch die Mentalität der ostdeutschen Bevölkerung erschien mir noch "ursprünglicher deutsch" als bei uns, da dort naturgemäß die Verwestlichung mit ihren Folgeerscheinungen wie der verbreiteten Ellenbogenmentalität nicht stattgefunden hatte. Bedingt durch die sozialistische Mangelwirtschaft, spielte "Vitamin B" unter den DDR- Bürgern eine nicht unbedeutende Rolle, so daß man in gewissem Umfang aufeinander angewiesen war und sich in zwischenmenschlicher Hinsicht vieles etwas humaner gestaltete als im kapitalistischen Westen. So jedenfalls waren meine persönlichen Eindrücke in den 60er/ 70er Jahren.
    Wie gestaltete sich das Leben im "anderen Deutschland" seit dem Mauerbau aber tatsächlich ? Die hermetische Schließung der Westgrenze im August 1961 wurde zwar von der DDR Staats- und Parteiführung jahrzehntelang als "Antifaschistischer Schutzwall" propagiert, sollte jedoch in erster Linie die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in die Bundesrepublik verhindern. Sie war jedoch auch die Voraussetzung für einen allmählichen wirtschaftlichen Aufschwung und die damit verbundene Steigerung des Lebensstandards, der nun auch in der DDR einsetzte. Der ostdeutsche Staat wurde im Verlauf der sechziger Jahre zur zweitstärksten Industriemacht im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und zum wichtigsten wirtschaftlichen Partner der Sowjetunion. Die DDR begann, mit der Bundesrepublik um Anerkennung in den Staaten der sogenannten "Dritten Welt" zu wetteifern, und wurde auch zunehmend von westlichen Politikern als "zweiter deutscher Staat" für voll genommen.
    Der relative wirtschaftliche Aufstieg der DDR förderte auch zunehmend ein gewisses Eigenbewußtsein seiner Bevölkerung, die den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach 1945 unter erheblich schwierigeren Rahmenbedingungen leisten mußte und die zunehmend zu der Einsicht gelangte, daß eine deutsche Wiedervereinigung in absehbarer Zeit vor dem Hintergrund des Kalten Krieges nicht zu erwarten sei. Man richtete sich im "real existierenden Sozialismus" so gut es ging ein.
    Im Jahre 1962 wuchs im Kreis von SED- Wirtschaftsfunktionären die Einsicht, daß das bisherige System der Planung und Lenkung der Volkswirtschaft reformiert werden mußte, wollte die DDR wirtschaftliches Wachstum mit einer besseren Versorgung der Bevölkerung verbinden. Daher kündigte Walter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik nach dem "Grundsatz des höchsten ökonomischen Nutzeffekts" sowie der "materiellen Interessiertheit" an. Infolge rückte eine Riege von reformorientierten Wirtschaftsspezialisten in das Politbüro der SED ein. Zwar hielt die DDR- Führung an den Grundsätzen einer sozialistischen Wirtschaftspolitik fest, versuchte aber, ihre Zentralverwaltungswirtschaft flexibler zu gestalten. So sollten die VEB´s in begrenztem Umfang selbst über die Verwendung ihrer erzielten Gewinne entscheiden können. An die Stelle der zentralen Steuerung traten Planvorgaben, die mehr auf eine indirekte Steuerung mittels Zinsen, Prämien, Abgaben und Preisen setzte. Durch ein System von Geld- und Urlaubsprämien sollten die Werktätigen zu größeren Leistungen angespornt und somit die Produktivität der DDR- Wirtschaft insgesamt gesteigert werden.
    Bei der praktischen Umsetzung des "NÖS" traten jedoch bald Schwierigkeiten auf. So führte das komplizierte System der Löhne, Prämien und Urlaubsvergünstigungen nicht nur zu Leistungssteigerungen, sondern teilweise auch zu Unzufriedenheit bei den Betroffenen. Denn die Leistungszulagen waren allzuoft abhängig von Faktoren, die ausschließlich die zentrale Planung zu verantworten hatte, wie fehlendes Material, veraltete Maschinen oder das Fehlen von Ersatzteilen. Dazu gesellte sich ein grundsätzliches Problem: durch die Förderung von Eigeninitiative wurde das Prinzip der zentralen Planung zunehmend in Frage gestellt und damit auch der Führungsanspruch der SED gefährdet.
    Das ZK der SED zog daraufhin im Dezember 1965 die Konsequenzen und leitete die "Zweite Phase des Neuen Ökonomischen Systems" ein, die bis 1967 anhielt. Wenige Tage zuvor hatte sich Erich Apel, der Leiter der staatlichen Planungskommission und führender Kopf des "NÖS", das Leben genommen. Nachfolger wurde Günter Mittag, der ebenfalls als Reformer galt und durchsetzte, daß 1966/67 die Zahl der zentral vorgegebenen Kennziffern deutlich reduziert wurde. Darauf hin wurden im Januar 1966 acht Industrieministerien gebildet, die die VEB´s leiten, koordinieren und kontrollieren sollten.
    Das 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965 faßte darüber hinaus schwerwiegende Beschlüsse, die praktisch einem vorläufigen Kahlschlag der bisherigen Kultur- und Jugendpolitik gleichkamen. Eingeleitet wurden zahlreiche repressive Maßnahmen gegen kritische Künstler und Wissenschaftler. Auch wurde der Staatssicherheitsdienst der DDR als Folge dieser Beschlüsse drastisch ausgebaut. Ausgedrückt werden sollte mit diesen Maßnahmen der eindeutige Anspruch der Staats- und Parteiführung auf das Machtmonopol in der DDR. Zugleich wandelte sich das "NÖS" von einer noch 1963 eingeforderten "Reform des ganzen Volkes" zu einer Reform, an der im wesentlichen nur noch die Führungskader der Wirtschaft und des Partei- und Regierungsapparates beteiligt waren.
    Der VII. Parteitag der SED im April 1967 verkündete schließlich den Übergang vom "NÖS" zum "Ökonomischen System des Sozialismus" (ÖSS). Infolge entwickelte sich das Preissystem flexibler, und die Betriebe erhielten größere Entscheidungsbefugnisse. Im Widerspruch zu dieser Liberalisierung stand aber die Einführung von "strukturbestimmenden Aufgaben". Neuinvestitionen und der Bau neuer Industrieanlagen sollten sich nunmehr auf einige "Fortschrittsindustrien" konzentrieren, wie z.B. die Elektrotechnik und den Werkzeugmaschinenbau. Die forcierte Förderung dieser Bereiche sollte die Leistungen der DDR- Industrie auf "Weltniveau" bringen und den Stand der Bundesrepublik zumindest erreichen oder sogar übertreffen.
    In seinen frühen Jahren hatte das "NÖS" durchaus positive Auswirkungen auf die DDR- Wirtschaft. Das Fernziel, den Westen einzuholen oder gar zu überholen, hat es jedoch nie auch nur annähernd erreicht.
    Anzuerkennen bleibt dennoch der allmählich steigende Lebensstandard der DDR- Bevölkerung in den 60er Jahren. So stiegen die Löhne zwischen 1960 und 1970 langsam an. Lag der durchschnittliche Bruttolohn eines Werktätigen im Jahre 1960 bei 501 Mark der DDR monatlich, so stieg er bis 1965 auf 552 Mark und bis 1970 auf 647 Mark. Zwar blieben Höhe und vor allem die Kaufkraft der Einkommen hinter denen der Bundesrepublik zurück, doch die massive staatliche Subventionierung der Lebensmittel für den Grundbedarf und vor allem der Mieten garantierte eine halbwegs auskömmliche Sicherheit auf niedrigem Niveau. Nie beseitigt werden konnte jedoch das Auftreten von Versorgungsengpässen vor allem bei höherwertigen Lebensmitteln und besseren Konsumgütern, bei denen die Nachfrage zusätzlich durch sehr hohe Abgabepreise gedrosselt wurde. Äußerst vernachlässigt wurde auch in den 60er Jahren der Wohnungsbau. Die künstlich niedrig gehaltenen Mieten trugen mit dazu bei, daß der vorhandene Bestand an Altbauwohnungen wenig gepflegt wurde und allmählich verfiel.


    www.youtube.com/watch?v=7u3NspMLiSU

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    Mittwoch, 15. September 2021, 13:38

    Leben wie im Westen - Die INTERSHOPS in der DDR

    Der chronische Devisenmangel des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden war über die gesamten vierzig Jahre seines Bestehens geradezu sprichwörtlich. Bereits in den ersten Jahren nach der Gründung der DDR gab es sog. "Transitlager", die später etwas kundenorientierter "HO Internationaler Basar" und schließlich ab 1956 "Intershop" genannt wurden. Bereits Mitte der 60er Jahre existierten in der DDR einige hundert Verkaufsstellen. Zielgruppe waren zunächst Besucher aus dem westlichen Ausland und vor allem Bundesbürger, die durch günstige Angebote verlockt werden sollten, in diesen Läden ihre Devisen auszugeben.
    Lukrativ wurde insbesondere in den 60er/70er Jahren das Geschäft mit Westberlinern, die die günstigen Angebote im Rahmen ihrer Tagestouren zu Einkäufen in INTERSHOPS nutzten.
    Das Geschäftsmodell erwies sich letztendlich als ausgesprochen erfolgreich. Saldiert man Umsätze und Gewinne bis 1989, so hat die DDR durch ihren Handel in den INTERSHOPS mehr verdient als durch Westkredite oder Häftlingsfreikäufe. Was blieb, war die ideologische Zwickmühle, in die die Staats- und Parteiführung mit diesen "Inseln kapitalistischen Glücks" gegenüber ihren eigenen Bürgern geriet. Nicht zuletzt aus diesem Grund änderte man im Dezember 1973 die Devisengesetze und verschaffte ab Februar 1974 somit auch DDR- Bürgern die Möglichkeit, "offiziell" bis zu fünfhundert DM (West) besitzen zu dürfen und damit in den Intershops einkaufen zu können. Es blieb den "Organen" nämlich nicht verborgen, daß viele Bürger des Landes durch die Geschenke von Westverwandten über Devisen verfügten, die über dunkle Kanäle gegen knappe Güter und Dienstleistungen eingetauscht wurden. Auch gab es einen durchaus florierenden Schwarzmarkt von Antiquitäten wie seltenen Briefmarken oder Münzen, die alle Zeitläufte überstanden hatten und gern gegen Devisen von kleinen und auch größeren Sammlern und Wiederverkäufern aus dem Westen übernommen wurden. Offiziell war die Ausfuhr von Kulturgütern über private Kanäle zwar strikt untersagt, konnte aber insbesondere bei Kleinantiquitäten kaum unterbunden werden.
    Im Jahre 1977 gab es in der DDR bereits 271 INTERSHOP- Läden, wobei die Spitze der Bezirk Rostock als "Hafen zur Welt" mit 36 Läden anführte. Um eine bessere Devisenkontrolle zu erlangen, wurden ab 1979 von der DDR- Bevölkerung eingereichte Devisen in den Filialen der Staatsbank der DDR zunächst gegen sog. "Forumschecks" eingetauscht, mit denen dann eingekauft werden konnte. Diese Prozedur stieß bei der Bevölkerung auf breite Ablehnung, da die Schecks ausschließlich in den INTERSHOPS eingelöst werden konnten, und führte zumindest vorübergehend zu einem Umsatzeinbruch in den Läden. Die Forumschecks blieben jedoch wertstabil und bis zum Ende der DDR offizielles Zahlungsmittel. Anfang 1990 konnten sie problemlos gegen DM (West) zurückgetauscht werden.
    Kurz vor dem Ende der DDR gab es in praktisch jeder Kreisstadt mindestens einen INTERSHOP, insgesamt waren es im Jahre 1989 470 Läden, wobei die Verkaufspreise durchaus nicht einheitlich waren, wie ansonsten in der DDR gewohnt. Insbesondere in grenznahen Lagen, Einrichtungen an den Transitstrecken sowie im stark frequentierten Berliner Bahnhof Friedrichsstraße lagen die Preise stets knapp unter denen der BRD. Hauptumsatzbringer waren Spirituosen, Zigaretten und Textilien. In den DDR- Binnenstädten dagegen lagen die Verkaufspreise meist etwas über den Westpreisen, da hier vorwiegend DDR- Bürger einkauften, denen sowohl die Vergleichsmöglichkeiten als auch die Möglichkeit der Abwanderung zur billigeren "Konkurrenz" fehlten.
    Was gab es im INTERSHOP ? Eigentlich alles, selbst Tiefkühlkost wurde aus Westberlin geliefert. Neben den direkten Verkäufen war dabei auch der GENEX- Geschenkdienst eine lukrative Einnahmequelle für das notorisch klamme Devisenstaatssäckel der DDR. Per Katalog konnten praktisch fast alle Konsumgüter erworben werden, die es im DDR- Handel nicht gab, Das Angebot erstreckte sich über Textilien bis hin zu Kraftfahrzeugen und kompletten Eigenheimen (!).
    Die Angestellten des INTERSHOP galten als äußerst privilegiert, hatten sie doch zumindest mittelbaren Zugang zu fast allen Konsumgütern des Westens und erhielten auch monatliche Prämien in Devisen ausgezahlt. Daß Gelegenheit natürlich auch Diebe macht, war angesichts der makabren Situation mehr als selbstverständlich, und so füllten entsprechende Vergehen ganze Bände der Polizei. So "vergaß" eine Leipziger Angestellte 1976, die Tageseinnahmen von 40.000 DM abends in den Tresor zu legen, und just in dieser Nacht wurde in den Laden eingebrochen. Eine andere Verkäuferin flüchtete in den Westen und nutzte dafür die Inventurdifferenz von 4.000 DM. Mal wurden die Einnahmen nicht korrekt eingetippt und das Bargeld unter der Kasse deponiert, mal wurden Preise "inoffiziell" heraufgesetzt. Freunden und Verwandten wurden Waren gelegentlich kostenlos überlassen oder nicht passende Geschenke von Westverwandten zu selbst festgelegten Preisen im eigenen INTERSHOP verkauft.
    Nach dem Fall der Mauer löste sich das Geschäftsmodell INTERSHOP wie von selbst in Luft auf. Zusammen mit der DDR wurden 1990 auch INTERSHOP UND GENEX abgewickelt.

    www.youtube.com/watch?v=wXAyDMbbgP4

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    Donnerstag, 16. September 2021, 07:59

    RE: Leben im anderen Deutschland - Die 60er Jahre in der DDR (I)

    Nachdem mein Onkel und meine Tante 1970 von Pegau/Leipzig nach Eberswalde gezogen waren, heiratete ich 1983 im Westen zum 1. Mal, und fuhr kurz vor Weihnachten 1988 mit meinem Mann nach Eberswalde, da er inzwischen die Bundeswehr nach 12 Jahren verlassen hatte (ob er von den VoPos befragt wurde, habe ich ehrlich gesagt vergessen).
    An einem der Tage zwischen Weihnachten und Silvester nahm uns mein Onkel nach Ost-Berlin und zeigte uns eine Strasse in der Naehe des ??? Palasts (der wiederaufgebaut worden war, weil man mit den Vorstellungen darin Devisen bekommen konnte), in der Haeuser standen, in deren Aussenmauern man immer noch Einschussloecher der Russen aus den letzten Tagen des Dritten Reichs sehen konnte.
    Ich fand es schlimm, dass die DDR Buerger nicht mal Moertel auftreiben konnten, um ihre Haeuser wenigstens von aussen etwas aufzubessern!
    Wenn ich als Jungspund in den 70er Jahren von Freunden gefragt wurde, welche Reiseziele denn noch lohnenswert seien, antwortete ich oft: " Wenn ihr wahre Exotik erleben wollt, fahrt in die DDR !" Und dies, obwohl Reisen in den Arbeiter- und Bauernstaat nicht ganz einfach waren, sofern man dort nicht verwandtschaftliche Bindungen hatte und dadurch die Einreiseformalitäten vereinfachen konnte. Auch ein Visum für den Besuch der Leipziger Messe wurde, zumindest seit den 70ern, oft weitgehend problemlos gewährt.
    Die "Exotik" der DDR ergab sich aus vielerlei Gründen: bereits der Geruch war dort oft anders, bedingt durch die zahllosen Zweitaktermotoren und die Braunkohlefeuerung. Auch die "Plaste und Elaste aus Schkopau" roch deutlich anders als unsere damaligen Westkunststoffe. Dazu kamen die zahlreichen politischen Parolen an den Gebäuden und die vielen mehr oder weniger verwahrlosten Altbauten in den Innenstädten, die sofort ins Auge stachen. Auch die Mentalität der ostdeutschen Bevölkerung erschien mir noch "ursprünglicher deutsch" als bei uns, da dort naturgemäß die Verwestlichung mit ihren Folgeerscheinungen wie der verbreiteten Ellenbogenmentalität nicht stattgefunden hatte. Bedingt durch die sozialistische Mangelwirtschaft, spielte "Vitamin B" unter den DDR- Bürgern eine nicht unbedeutende Rolle, so daß man in gewissem Umfang aufeinander angewiesen war und sich in zwischenmenschlicher Hinsicht vieles etwas humaner gestaltete als im kapitalistischen Westen. So jedenfalls waren meine persönlichen Eindrücke in den 60er/ 70er Jahren.
    Wie gestaltete sich das Leben im "anderen Deutschland" seit dem Mauerbau aber tatsächlich ? Die hermetische Schließung der Westgrenze im August 1961 wurde zwar von der DDR Staats- und Parteiführung jahrzehntelang als "Antifaschistischer Schutzwall" propagiert, sollte jedoch in erster Linie die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in die Bundesrepublik verhindern. Sie war jedoch auch die Voraussetzung für einen allmählichen wirtschaftlichen Aufschwung und die damit verbundene Steigerung des Lebensstandards, der nun auch in der DDR einsetzte. Der ostdeutsche Staat wurde im Verlauf der sechziger Jahre zur zweitstärksten Industriemacht im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und zum wichtigsten wirtschaftlichen Partner der Sowjetunion. Die DDR begann, mit der Bundesrepublik um Anerkennung in den Staaten der sogenannten "Dritten Welt" zu wetteifern, und wurde auch zunehmend von westlichen Politikern als "zweiter deutscher Staat" für voll genommen.
    Der relative wirtschaftliche Aufstieg der DDR förderte auch zunehmend ein gewisses Eigenbewußtsein seiner Bevölkerung, die den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach 1945 unter erheblich schwierigeren Rahmenbedingungen leisten mußte und die zunehmend zu der Einsicht gelangte, daß eine deutsche Wiedervereinigung in absehbarer Zeit vor dem Hintergrund des Kalten Krieges nicht zu erwarten sei. Man richtete sich im "real existierenden Sozialismus" so gut es ging ein.
    Im Jahre 1962 wuchs im Kreis von SED- Wirtschaftsfunktionären die Einsicht, daß das bisherige System der Planung und Lenkung der Volkswirtschaft reformiert werden mußte, wollte die DDR wirtschaftliches Wachstum mit einer besseren Versorgung der Bevölkerung verbinden. Daher kündigte Walter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik nach dem "Grundsatz des höchsten ökonomischen Nutzeffekts" sowie der "materiellen Interessiertheit" an. Infolge rückte eine Riege von reformorientierten Wirtschaftsspezialisten in das Politbüro der SED ein. Zwar hielt die DDR- Führung an den Grundsätzen einer sozialistischen Wirtschaftspolitik fest, versuchte aber, ihre Zentralverwaltungswirtschaft flexibler zu gestalten. So sollten die VEB´s in begrenztem Umfang selbst über die Verwendung ihrer erzielten Gewinne entscheiden können. An die Stelle der zentralen Steuerung traten Planvorgaben, die mehr auf eine indirekte Steuerung mittels Zinsen, Prämien, Abgaben und Preisen setzte. Durch ein System von Geld- und Urlaubsprämien sollten die Werktätigen zu größeren Leistungen angespornt und somit die Produktivität der DDR- Wirtschaft insgesamt gesteigert werden.
    Bei der praktischen Umsetzung des "NÖS" traten jedoch bald Schwierigkeiten auf. So führte das komplizierte System der Löhne, Prämien und Urlaubsvergünstigungen nicht nur zu Leistungssteigerungen, sondern teilweise auch zu Unzufriedenheit bei den Betroffenen. Denn die Leistungszulagen waren allzuoft abhängig von Faktoren, die ausschließlich die zentrale Planung zu verantworten hatte, wie fehlendes Material, veraltete Maschinen oder das Fehlen von Ersatzteilen. Dazu gesellte sich ein grundsätzliches Problem: durch die Förderung von Eigeninitiative wurde das Prinzip der zentralen Planung zunehmend in Frage gestellt und damit auch der Führungsanspruch der SED gefährdet.
    Das ZK der SED zog daraufhin im Dezember 1965 die Konsequenzen und leitete die "Zweite Phase des Neuen Ökonomischen Systems" ein, die bis 1967 anhielt. Wenige Tage zuvor hatte sich Erich Apel, der Leiter der staatlichen Planungskommission und führender Kopf des "NÖS", das Leben genommen. Nachfolger wurde Günter Mittag, der ebenfalls als Reformer galt und durchsetzte, daß 1966/67 die Zahl der zentral vorgegebenen Kennziffern deutlich reduziert wurde. Darauf hin wurden im Januar 1966 acht Industrieministerien gebildet, die die VEB´s leiten, koordinieren und kontrollieren sollten.
    Das 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965 faßte darüber hinaus schwerwiegende Beschlüsse, die praktisch einem vorläufigen Kahlschlag der bisherigen Kultur- und Jugendpolitik gleichkamen. Eingeleitet wurden zahlreiche repressive Maßnahmen gegen kritische Künstler und Wissenschaftler. Auch wurde der Staatssicherheitsdienst der DDR als Folge dieser Beschlüsse drastisch ausgebaut. Ausgedrückt werden sollte mit diesen Maßnahmen der eindeutige Anspruch der Staats- und Parteiführung auf das Machtmonopol in der DDR. Zugleich wandelte sich das "NÖS" von einer noch 1963 eingeforderten "Reform des ganzen Volkes" zu einer Reform, an der im wesentlichen nur noch die Führungskader der Wirtschaft und des Partei- und Regierungsapparates beteiligt waren.
    Der VII. Parteitag der SED im April 1967 verkündete schließlich den Übergang vom "NÖS" zum "Ökonomischen System des Sozialismus" (ÖSS). Infolge entwickelte sich das Preissystem flexibler, und die Betriebe erhielten größere Entscheidungsbefugnisse. Im Widerspruch zu dieser Liberalisierung stand aber die Einführung von "strukturbestimmenden Aufgaben". Neuinvestitionen und der Bau neuer Industrieanlagen sollten sich nunmehr auf einige "Fortschrittsindustrien" konzentrieren, wie z.B. die Elektrotechnik und den Werkzeugmaschinenbau. Die forcierte Förderung dieser Bereiche sollte die Leistungen der DDR- Industrie auf "Weltniveau" bringen und den Stand der Bundesrepublik zumindest erreichen oder sogar übertreffen.
    In seinen frühen Jahren hatte das "NÖS" durchaus positive Auswirkungen auf die DDR- Wirtschaft. Das Fernziel, den Westen einzuholen oder gar zu überholen, hat es jedoch nie auch nur annähernd erreicht.
    Anzuerkennen bleibt dennoch der allmählich steigende Lebensstandard der DDR- Bevölkerung in den 60er Jahren. So stiegen die Löhne zwischen 1960 und 1970 langsam an. Lag der durchschnittliche Bruttolohn eines Werktätigen im Jahre 1960 bei 501 Mark der DDR monatlich, so stieg er bis 1965 auf 552 Mark und bis 1970 auf 647 Mark. Zwar blieben Höhe und vor allem die Kaufkraft der Einkommen hinter denen der Bundesrepublik zurück, doch die massive staatliche Subventionierung der Lebensmittel für den Grundbedarf und vor allem der Mieten garantierte eine halbwegs auskömmliche Sicherheit auf niedrigem Niveau. Nie beseitigt werden konnte jedoch das Auftreten von Versorgungsengpässen vor allem bei höherwertigen Lebensmitteln und besseren Konsumgütern, bei denen die Nachfrage zusätzlich durch sehr hohe Abgabepreise gedrosselt wurde. Äußerst vernachlässigt wurde auch in den 60er Jahren der Wohnungsbau. Die künstlich niedrig gehaltenen Mieten trugen mit dazu bei, daß der vorhandene Bestand an Altbauwohnungen wenig gepflegt wurde und allmählich verfiel.

    (wird fortgesetzt)

    www.youtube.com/watch?v=7u3NspMLiSU

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    Donnerstag, 16. September 2021, 08:04

    RE: Leben wie im Westen - Die INTERSHOPS in der DDR

    Intershop habe ich vollkommen vergessen.
    Mein Onkel aus der DDR kam offenbar durch seine KFZ Werkstatt oft an Devisen aus dem Westen heran, und kaufte bei Intershop sogar seine Fernseher.
    Der chronische Devisenmangel des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden war über die gesamten vierzig Jahre seines Bestehens geradezu sprichwörtlich. Bereits in den ersten Jahren nach der Gründung der DDR gab es sog. "Transitlager", die später etwas kundenorientierter "HO Internationaler Basar" und schließlich ab 1956 "Intershop" genannt wurden. Bereits Mitte der 60er Jahre existierten in der DDR einige hundert Verkaufsstellen. Zielgruppe waren zunächst Besucher aus dem westlichen Ausland und vor allem Bundesbürger, die durch günstige Angebote verlockt werden sollten, in diesen Läden ihre Devisen auszugeben.
    Lukrativ wurde insbesondere in den 60er/70er Jahren das Geschäft mit Westberlinern, die die günstigen Angebote im Rahmen ihrer Tagestouren zu Einkäufen in INTERSHOPS nutzten.
    Das Geschäftsmodell erwies sich letztendlich als ausgesprochen erfolgreich. Saldiert man Umsätze und Gewinne bis 1989, so hat die DDR durch ihren Handel in den INTERSHOPS mehr verdient als durch Westkredite oder Häftlingsfreikäufe. Was blieb, war die ideologische Zwickmühle, in die die Staats- und Parteiführung mit diesen "Inseln kapitalistischen Glücks" gegenüber ihren eigenen Bürgern geriet. Nicht zuletzt aus diesem Grund änderte man im Dezember 1973 die Devisengesetze und verschaffte ab Februar 1974 somit auch DDR- Bürgern die Möglichkeit, "offiziell" bis zu fünfhundert DM (West) besitzen zu dürfen und damit in den Intershops einkaufen zu können. Es blieb den "Organen" nämlich nicht verborgen, daß viele Bürger des Landes durch die Geschenke von Westverwandten über Devisen verfügten, die über dunkle Kanäle gegen knappe Güter und Dienstleistungen eingetauscht wurden. Auch gab es einen durchaus florierenden Schwarzmarkt von Antiquitäten wie seltenen Briefmarken oder Münzen, die alle Zeitläufte überstanden hatten und gern gegen Devisen von kleinen und auch größeren Sammlern und Wiederverkäufern aus dem Westen übernommen wurden. Offiziell war die Ausfuhr von Kulturgütern über private Kanäle zwar strikt untersagt, konnte aber insbesondere bei Kleinantiquitäten kaum unterbunden werden.
    Im Jahre 1977 gab es in der DDR bereits 271 INTERSHOP- Läden, wobei die Spitze der Bezirk Rostock als "Hafen zur Welt" mit 36 Läden anführte. Um eine bessere Devisenkontrolle zu erlangen, wurden ab 1979 von der DDR- Bevölkerung eingereichte Devisen in den Filialen der Staatsbank der DDR zunächst gegen sog. "Forumschecks" eingetauscht, mit denen dann eingekauft werden konnte. Diese Prozedur stieß bei der Bevölkerung auf breite Ablehnung, da die Schecks ausschließlich in den INTERSHOPS eingelöst werden konnten, und führte zumindest vorübergehend zu einem Umsatzeinbruch in den Läden. Die Forumschecks blieben jedoch wertstabil und bis zum Ende der DDR offizielles Zahlungsmittel. Anfang 1990 konnten sie problemlos gegen DM (West) zurückgetauscht werden.
    Kurz vor dem Ende der DDR gab es in praktisch jeder Kreisstadt mindestens einen INTERSHOP, insgesamt waren es im Jahre 1989 470 Läden, wobei die Verkaufspreise durchaus nicht einheitlich waren, wie ansonsten in der DDR gewohnt. Insbesondere in grenznahen Lagen, Einrichtungen an den Transitstrecken sowie im stark frequentierten Berliner Bahnhof Friedrichsstraße lagen die Preise stets knapp unter denen der BRD. Hauptumsatzbringer waren Spirituosen, Zigaretten und Textilien. In den DDR- Binnenstädten dagegen lagen die Verkaufspreise meist etwas über den Westpreisen, da hier vorwiegend DDR- Bürger einkauften, denen sowohl die Vergleichsmöglichkeiten als auch die Möglichkeit der Abwanderung zur billigeren "Konkurrenz" fehlten.
    Was gab es im INTERSHOP ? Eigentlich alles, selbst Tiefkühlkost wurde aus Westberlin geliefert. Neben den direkten Verkäufen war dabei auch der GENEX- Geschenkdienst eine lukrative Einnahmequelle für das notorisch klamme Devisenstaatssäckel der DDR. Per Katalog konnten praktisch fast alle Konsumgüter erworben werden, die es im DDR- Handel nicht gab, Das Angebot erstreckte sich über Textilien bis hin zu Kraftfahrzeugen und kompletten Eigenheimen (!).
    Die Angestellten des INTERSHOP galten als äußerst privilegiert, hatten sie doch zumindest mittelbaren Zugang zu fast allen Konsumgütern des Westens und erhielten auch monatliche Prämien in Devisen ausgezahlt. Daß Gelegenheit natürlich auch Diebe macht, war angesichts der makabren Situation mehr als selbstverständlich, und so füllten entsprechende Vergehen ganze Bände der Polizei. So "vergaß" eine Leipziger Angestellte 1976, die Tageseinnahmen von 40.000 DM abends in den Tresor zu legen, und just in dieser Nacht wurde in den Laden eingebrochen. Eine andere Verkäuferin flüchtete in den Westen und nutzte dafür die Inventurdifferenz von 4.000 DM. Mal wurden die Einnahmen nicht korrekt eingetippt und das Bargeld unter der Kasse deponiert, mal wurden Preise "inoffiziell" heraufgesetzt. Freunden und Verwandten wurden Waren gelegentlich kostenlos überlassen oder nicht passende Geschenke von Westverwandten zu selbst festgelegten Preisen im eigenen INTERSHOP verkauft.
    Nach dem Fall der Mauer löste sich das Geschäftsmodell INTERSHOP wie von selbst in Luft auf. Zusammen mit der DDR wurden 1990 auch INTERSHOP UND GENEX abgewickelt.

    www.youtube.com/watch?v=wXAyDMbbgP4

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    Donnerstag, 16. September 2021, 11:19

    Jugend in der DDR der 60er - Anspruch und Wirklichkeit (I)

    Bei meinen Verwandtenbesuchen als Kind der 60er Jahre wurde ich mit schöner Regelmäßigkeit auf der Straße von den dort ansässigen Jungs als "Wessi" erkannt und oft nach Strich und Faden vermöbelt, obwohl mir meine Cousins nach Kräften beistanden. Ich sah es damals sportlich und betrachtete es als eine Art "Begrüßungsritual", zumal ich damals auch recht ordentlich ausgeteilt habe.
    Wie nun sah aber die tägliche Lebensrealität der DDR- Jugend in den 60ern aus ? In den offiziellen Verlautbarungen der SED spielte die Jugend stets eine große Rolle: sie galt, ähnlich wie die Jugend im NS- Staat, als "noch formbar", sie war nicht von der Vergangenheit belastet und würde den Sozialismus umsetzen. Die FDJ (Freie Deutsche Jugend) als einzige DDR- Massenorganisation für Jugendliche ab 14 Jahren war stets bemüht, die Jugendlichen für den Aufbau des Sozialismus zu begeistern und zu staatstreuen Bürgern der DDR zu formen. Diejenigen, die sich diesem Anspruch aus weltanschaulichen oder anderen Gründen zu entziehen suchten, mußten u.U. mit Sanktionen rechnen.
    Insbesondere die 60er Jahre sind durch das Spannungsverhältnis eines Erziehungsanspruchs der FDJ und dem Bestreben nicht weniger Jugendlicher gekennzeichnet, sich ihre persönlichen Freiräume zu bewahren. Auch im Arbeiter- und Bauernstaat kam ab ca. Mitte der 60er Jahre ein Generationenkonflikt zum Ausbruch, da die im ZK der SED sitzenden Spitzenfunktionäre ihre politische Sozialisation meist in der Zeit der Weimarer Republik und des NS- Staates erhalten hatten und oft im aktiven Widerstand oder im politischen Exil aktiv waren.
    Aufgrund ihrer andersgearteten Erfahrungen als Jugendliche standen sie den Bedürfnissen und neuen kulturellen Ausdrucksformen einer nachgewachsenen Generation von Jugendlichen oft verständnislos bis ablehnend gegenüber. So hielten sie z.B. die jugendliche Begeisterung für Rock´n Roll und Beat sowie die Vorliebe für westliche Mode und längere Haare für "westlich dekadent", ja "unmoralisch".
    Erich Mielke, der Chef des Staatssicherheitsdienstes, ging sogar noch einen Schritt weiter. Konflikte und Probleme mit der ostdeutschen Jugend waren für ihn schlichtweg eine Folge der "Existenz des westdeutschen staatsmonopolistischen Herrschaftssystems" sowie von dessen schädlicher psychologischer Kriegsführung gegen die DDR. Auf diese Art wurden in den Augen nicht weniger SED- Funktionäre Beat- Gruppen zu Agenten des Klassenfeindes und die neu entstandene jugendliche Subkultur zu einem "politisch gefährlichen Protest".
    Der Bau der Mauer und die hermetische Schließung der Westgrenze im August 1961 blockierte den ostdeutschen Jugendlichen zunächst den direkten "interkulturellen Kontakt" mit dem Westen. Weitere Appelle seitens der DDR- Staatsführung an die ostdeutsche Jugend folgten auf dem Fuß. So rief der Zentralrat der FDJ bereits am 16. August 1961 unter dem Slogan "Das Vaterland ruft ! Schützt die sozialistische Republik !" zum freiwilligen Dienst in der Nationalen Volksarmee auf, denn die allgemeine Wehrpflicht wurde erst ab Januar 1962 in der DDR eingeführt. Desweiteren wurde im September 1961 die "Aktion Blitz gegen NATO- Sender" gestartet, bei der etwa 25.000 Jugendliche Tausende von Fernsehantennen, die gen Westen ausgerichtet waren, in "Richtung Sozialismus" einstellten. Eine Maßnahme, die nur kurzfristig Erfolg hatte, und es bleibt bis heute die Frage offen, warum die DDR zu keiner Zeit Störsender gegen den Empfang westlicher Programme in Einsatz gebracht hat.
    Trotz aller Appelle und Aktionen blieb die Staats- und Parteiführung gegenüber großen Teilen der DDR Jugend mißtrauisch. Denn auch nach 1961 orientierten sich viele Jugendliche weiterhin in Freizeit, Kleidung, Haarschnitt, Tanz und Musik weiterhin an westlichen Vorbildern und Idolen. Vor allem Schüler der erweiterten Oberschulen galten als besonders anfällig für bürgerliche und kirchliche Einflüsse, die oft nichts anderes waren als die Weitergabe überlieferter Familientraditionen. Zwar war der Höhepunkt der staatlichen Repressionen gegen die Amtskirchen 1961 bereits überschritten (und auch verfassungswidrig), dennoch standen insbesondere die kirchlichen Jugendorganisationen weiterhin unter ständiger Beobachtung staatlicher Organe und wurden auch bekämpft.
    Mit der Einführung des "Neuen Ökonomischen Systems" (NÖS) begann 1963 auch eine gewisse Liberalisierung der Jugend- und Kulturpolitik in der DDR. SED- und FDJ- Führung sahen allmählich ein, daß der Abschottung nach außen eine Öffnung nach innen erfolgen mußte, wollte man große Teile der Jugend nicht verlieren. Im September 1963 verabschiedete das Politbüro der SED daher ein sog. "Jugendkommuniqué", das eine veränderte Politik vorstellte. Von nun an sollte das Verhältnis der "Offiziellen" zur ostdeutschen Jugend frei sein von Gängelei und Zeigefingerheben. Die bis dahin verteufelten "westlichen Marotten" vieler Jugendlicher sollten toleriert und durch politische Schulung kompensiert werden. Auch wurden in Ost- Berlin öffentliche "Streitgespräche" veranstaltet, in denen Hunderte von Jugendlichen über aktuelle Streitfragen diskutierten.
    Einen Höhepunkt dieser "Öffnungspolitik" bildete das Deutschlandtreffen der Jugend im Mai 1964. Die SED hatte dazu ein Programm entwickelt, das Unterhaltung und Tanz geschickt mit politischer Indoktrination verband. Über eine halbe Million Jugendliche kamen damals nach Ost- Berlin, darunter auch 25.000 aus der Bundesrepublik. Für letztere stellte sich eine DDR in Aufbruchsstimmung dar, während sich bei vielen ostdeutschen Teilnehmern das Deutschlandtreffen der Jugend von 1964 als bleibendes Schlüsselerlebnis ihrer Jugend einprägte.

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    Donnerstag, 16. September 2021, 12:49

    Jugend in der DDR der 60er - Anspruch und Wirklichkeit (II)

    Die Spannung zwischen der "westlichen" Ausrichtung vieler DDR- Jugendlicher und den politischen Forderungen des Staats- und Parteiführung versuchte das Politbüro der SED 1964 durch ein neues Jugendgesetz zu lösen, welches die Erwartungen des Staates an die ostdeutsche Jugend ausformulierte und Spielräume abgrenzte, innerhalb derer sich die Jugendlichen bewegen durften. Das Gesetz mit dem sperrigen Titel "Gesetz über die Teilnahme der Jugend der Deutschen Demokratischen Republik am Kampf um den umfassenden Aufbau des Sozialismus und die allseitige Förderung ihrer Initiativen bei der Leitung der Volkswirtschaft und des Staates, in Beruf und Schule, bei Kultur und Sport" wurde im Mai 1964 von der Volkskammer verabschiedet. Vorgeschrieben wurde mit diesem Erlaß nun der Zusammenschluß von Jugendlichen auf Betriebsebene in Jugendbrigaden, Jugendbereichen, Jugendobjekten und anderen Jugendkollektiven. Berufswünsche und die Berufausbildung der jungen Menschen sollten durch eine staatliche Planungkommission gelenkt werden, während individuelle Wünsche und Vorlieben nachrangig blieben (!). Mädchen sollte bei der Berufswahl besonders unterstützt und verstärkt auch für technische Berufe gewonnen werden. Eine Vorgabe, die nicht unerhebliche Auswirkungen auf das Rollenverständnis von DDR- Frauen in den Folgejahrzehnten haben sollte.
    Im Februar 1965 folgte das Gesetz über das "einheitliche sozialistische Bildungssystem". Von großer Bedeutung war dieser Gesetzentwurf für den Alltag und den weiteren Lebensweg von DDR- Jugendlichen, da es Inhalte und die Organisation des DDR- Bildungswesens bis zum Ende der DDR im Jahre 1989 festlegte. Grundsätzlich orientierte man sich auf diesem Feld am Vorbild der Sowjetunion. Bereits 1959 wurde mit der zehnklasssigen allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS) die Einheitsschule zur obligatorischen Schule erklärt. Mit dem Gesetz von 1965 sollte die Bildungsplanung verbessert, das Bildungsniveau angehoben und das Bildungssystem besser mit dem nachfolgenden Beschäftigungssystem verknüpft werden. Grundsätzlich sollte Theorie mit Praxis, Lernen und Studieren mit "produktiver Tätigkeit" verbunden sein. Insbesondere wurde auf die mathematisch- naturwissenschaftlichen und die technischen Bildungsinhalte großer Wert gelegt, während die Geisteswissenschaften demgegenüber eher in den Hintergrund traten.
    Das Gesetz zeigte nachhaltige Wirkung. Während 1965/66 lediglich 72 Prozent aller Schüler die 9. Klasse einer Polytechnischen Oberschule besuchten, waren es 1970 bereits 85 Prozent. 1965 hatten 53,6 Prozent aller Schulabgänger den Abschluß der 10. Klasse, 1970 waren es bereits 70,7 Prozent.
    Die Standardschule in Form der zehnklassigen Polytechnischen Oberschule war eine Gesamtschule. Ihr besonderes Kennzeichen war die Verbindung von Schule und Arbeitswelt durch den polytechnischen Unterricht, der bereits in der 7. Klasse einsetzte. Ab diesem Zeitpunkt wurden die Schüler in die "sozialistische Produktion" eingeführt. Dazu gehörte vor allem die "produktive Arbeit" in einem VEB oder einer LPG. Unterricht und Arbeit in diesen Bereichen boten noch keine berufliche Grundausbildung, sollten aber berufsvorbereitend sein.
    Die zweijährige Erweiterte Oberschule (EOS) baute auf die Polytechnische Oberschule auf und sollte auf das Hochschulstudium vorbereiten. Zum obligatorischen Unterricht der EOS gehörten auch Lehrgänge zur vormilitärischen Ausbildung für Jungen sowie die Sanitätsausbildung für Mädchen. Die Zulassungen zur EOS wurden zahlenmäßig strikt begrenzt und auf die vorhandene Zahl der verfügbaren Studienplätze abgestimmt. Die Auswahl der Schüler erfolgte nach schulischen Leistungen, politischer Zuverlässigkeit und auch nach der sozialen Herkunft. Die Praxis sah dann so aus, daß im statistischen Mittel nur zwei (!) Jugendliche einer 10. Klasse auf die EOS wechseln konnten.
    Das Bildungsgesetz von 1965 führte zu einer größeren Effektivität des DDR- Bildungssystems , und dies auch im Vergleich zur Bundesrepublik. Es nahm allerdings weniger Rücksicht auf persönliche Interessen und Ansprüche. Großer Wert wurde auf die Einheit von fachlicher und politischer Ausbildung gelegt. Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen wurde dabei nicht vermittelt und war auch nicht gewünscht.
    Bereits Ende 1964 setzte ein erneuter Wandel in der Jugend- und Kulturpolitik der DDR ein. Spitzenfunktionäre wie Erich Honecker, Horst Sindermann und Erich Mielke waren entschlossen, die Liberalisierung in der Kultur- und Jugendpolitik zu beenden, denn in ihren Augen hatte sie zur Abkehr von großen Teilen der Jugend von der DDR- Gesellschaft geführt. Im Oktober 1965 kam das ZK der SED zu dem Beschluß, daß "Entstellungen der Jugendpolitik der Partei" korrigiert werden müßten. Allen Gruppen, die "dekadente westliche Musik" spielten, sei die Lizenz zu entziehen, auch seien "Gammler" und andere "Arbeitsunwillige" aus dem Umfeld der Beat- Gruppen bei Verstößen gegen die Gesetze der DDR in Arbeitslager einzuweisen. Auch die FDJ- Führung schwenkte auf einen härteren Kurs um und strich zunächst im Mai 1965 einen nationalen Gitarrenwettbewerb, da die Interpreten sich vorwiegend an anglo- amerikanischen Vorbildern orientierten. Im Herbst 1965 wurden alle Bezirke angewiesen, Beat- Gruppen zu registrieren, vorzuladen und bei "Auffälligkeiten" wie "ungepflegtem Äußeren", "Exzessen auf der Bühne", "Arbeitsbummelei", zu hohen Gagenforderungen u.v.m. die Lizenz zu entziehen. Im Bezirk Leipzig betraf diese Maßnahme immerhin 54 von insgesamt 58 Beat- Bands. Am 31. Oktober 1965 versammelten sich daraufhin rund 800 Jugendliche in der Leipziger Innenstadt, um gegen die Auftrittsverbote zu protestieren. Es handelte sich um die größte verbotene Demonstration von (jugendlichen) DDR- Bürgern seit dem 17. Juni 1953. Die kasernierte Volkspolizei machte daraufhin kurzen Prozeß mit den Demonstranten und trieb die Versammlung auseinander. Mehr als 250 teilnehmende Jugendliche wurden daraufhin zu dreiwöchiger Zwangsarbeit in die umliegenden Braunkohlegruben transportiert, während einigen Rädelsführern der Prozeß gemacht wurde.
    "Leipzig ´65" war ein deutliches Indiz für einen deutlichen Umschwung in der DDR- Innenpolitik, wie er sich im Herbst dieses Jahres vollzog. Auf dem Dezember- Plenum des ZK der SED sollten ursprünglich nur Wirtschaftsfragen behandelt werden, doch ging man ungewöhnlich schnell zur Jugend- und Kulturpolitik über. Erich Honecker lamentierte, daß an den "jüngsten Ausschreitungen" vor allem schlechte Filme, Fernsehsendungen, Theaterstücke, Romane und Zeitschriftenartikel schuld seien, die Brutalität und sexuelle Triebhaftigkeit propagierten. Auch hätten FDJ und Partei die schädlichen Einflüsse der Beat- Musik grob unterschätzt. Die Ursachen lägen u.a. an einem "ungenügendem marxistischen Weltbild der Künstler".
    Die als "Kahlschlagplenum" in die DDR- Geschichte eingegangene Sitzung des ZK der SED vom Dezember 1965 hatte weitreichende Konsequenzen. Neben zahlreichen anderen Künstlern erhielt Wolf Biermann absolutes Auftritts- und Veröffentlichungsverbot. Viele kritische Buchneuerscheinungen konnten nur im Westen erscheinen, und die DEFA mußte fast eine gesamte Jahresproduktion neuer Filme aus dem Verkehr ziehen. Darunter fielen Produktionen wie "Das Kaninchen bin ich", "Spur der Steine" sowie "Denk bloß nicht, ich heule". Das Plenum des ZK der SED war ein (vorläufiger) vollständiger Sieg des DDR- Parteiapparats über den Anspruch auf künstlerische Autonomie und die Ansprüche vieler Jugendlicher auf selbstbestimmte Freiräume.

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    Donnerstag, 16. September 2021, 14:17

    Jugend in der DDR der 60er - Anspruch und Wirklichkeit (III)

    Im Jahre 1966 wurde das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZJF) gegründet. Das ZJF hatte zur Aufgabe, Trends, Ursachen und Erscheinungen jugendlicher Aktivitäten unter die Lupe zu nehmen. Eine entsprechende Untersuchung des ZJF über die Befindlichkeit der DDR- Jugend von 1969 unter dem Titel "U69" machte deutlich, wie weit die FDJ immer noch davon entfernt war, Jugendliche in der DDR anzusprechen, sie in politische Gespräche einzubeziehen und vor allem ihre aktive politische Mitwirkung zu erreichen. Die FDJ- Mitgliedschaft war oft zu einer Formsache geworden, das Verbandsleben galt als erstarrt und unmodern. Selbst viele grundsätzlich beliebte Veranstaltungen im Freizeitbereich wie Sport- und Musikevents galten bei vielen DDR- Jugendlichen als nicht sonderlich attraktiv. Auch war die Resonanz auf politisch- ideologische Themen bei Jugendlichen kaum vorhanden, ja oft sogar negativ besetzt. Die deutliche Zunahme von Ausstiegs- und Verweigerungstendenzen wurden von den Parteigremien geheim gehalten und selbst in der Führungsriege der FDJ nur mit äußerster Zurückhaltung thematisiert. Allem Anschein nach gelang es der SED und der FDJ gegen Ende der 60er Jahre, nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen für ihre Arbeit und sozialistischen Ziele zu begeistern. Dieser politisch als zuverlässig geltende Teil der Jugend (man geht heute von 10 bis 15 Prozent aus) war aber nicht in der Lage, die absolute Mehrheit zu größeren Engagements zu motivieren.
    Abschließend sei gesagt, daß der Autor dieser kleinen Reihe über die Jugend in der DDR als "Beinahe- Jugendlicher" im Jahre 1969 selbst zu Besuch bei Verwandten in der Altmark gewesen ist. Über Politik wurde damals kaum oder gar nicht gesprochen, dagegen wurde die Versorgungslage gelegentlich stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen und mitgebrachte Geschenke wie Kaffee, Kakao und Schokolade mit Dank angenommen. Mein Onkel war zu dieser Zeit in der örtlichen Eisfabrik beschäftigt, die auch für den Export arbeitete. Als damals zwölfjähriger "Wessi" wurde ich zur Verkostung eingeladen und konnte bestätigen, daß die Qualität des dort produzierten Speiseeises durchaus "Weltniveau" hatte. Erstaunt hat mich dagegen, daß im Ort selbst ein anderes Eis angeboten wurde, das diese Qualität bei weitem nicht erreichte.
    Plattenbauten gab es damals noch nicht, diese wurden erst in den 70er Jahren in der Nähe des Stadtsees errichtet. Neubauwohnungen dieser Art galten zu dieser Zeit unter DDR- Bürgern durchaus als erstrebenswert, da die Altbausubstanz sich zu dieser Zeit bereits sehr häufig in einem beklagenswerten Zustand befand. Insbesondere WC- Einrichtungen hatten oft noch die überkommenen Standards aus der Zeit des deutschen Kaiserreichs mit der Toilette "eine halbe Treppe tiefer" oder in ländlichen Gegenden das "Plumpsklo überm Hof".
    Trotz alldem konnte von einer "bedrückenden Atmosphäre", wie diese oft im Westen kolportiert wurde, keine Rede sein. Man machte aus der Situation das Beste, half sich gegenseitig und hatte hüben wie drüben seine privaten Freuden und auch Sorgen.

    www.youtube.com/watch?v=QHY1Ky8oC2w
    www.youtube.com/watch?v=9WzYEjR_rAU

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    Samstag, 18. September 2021, 13:36

    RE: Jugend in der DDR der 60er - Anspruch und Wirklichkeit (I)

    Ich kann mir lebhaft vorstellen, WIEVIELE Jugendliche aus dem Westen sich bei diesem Treffen in Jugendliche aus der Ex-DDR verliebt haben, und dann jahrzehntelang unter der Mauer leiden mussten.
    Ging mir auch nicht anders zwischen 1970 und 1973, aber mein Wunsch nach USA Reisen war einfach groesser als meine Bereitwilligkeit, zu meinem Freund in die DDR zu ziehen und auf jegliche Reisen zu verzichten.
    Es tat sehr weh (und der neue Freund im Western, den ich im August 1973 kennenlernte, konnte dem Freund in der DDR absolut nicht das Wasser reichen), aber heute bin ich froh ueber meine Entscheidung.

    Trotz aller Appelle und Aktionen blieb die Staats- und Parteiführung gegenüber großen Teilen der DDR Jugend mißtrauisch. Denn auch nach 1961 orientierten sich viele Jugendliche weiterhin in Freizeit, Kleidung, Haarschnitt, Tanz und Musik weiterhin an westlichen Vorbildern und Idolen. Vor allem Schüler der erweiterten Oberschulen galten als besonders anfällig für bürgerliche und kirchliche Einflüsse, die oft nichts anderes waren als die Weitergabe überlieferter Familientraditionen. Zwar war der Höhepunkt der staatlichen Repressionen gegen die Amtskirchen 1961 bereits überschritten (und auch verfassungswidrig), dennoch standen insbesondere die kirchlichen Jugendorganisationen weiterhin unter ständiger Beobachtung staatlicher Organe und wurden auch bekämpft.

    Einen Höhepunkt dieser "Öffnungspolitik" bildete das Deutschlandtreffen der Jugend im Mai 1964. Die SED hatte dazu ein Programm entwickelt, das Unterhaltung und Tanz geschickt mit politischer Indoktrination verband. Über eine halbe Million Jugendliche kamen damals nach Ost- Berlin, darunter auch 25.000 aus der Bundesrepublik. Für letztere stellte sich eine DDR in Aufbruchsstimmung dar, während sich bei vielen ostdeutschen Teilnehmern das Deutschlandtreffen der Jugend von 1964 als bleibendes Schlüsselerlebnis ihrer Jugend einprägte.

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    Samstag, 18. September 2021, 17:58

    RE: Jugend in der DDR der 60er - Anspruch und Wirklichkeit (III)

    Ja, das kann ich nur bestaetigen.
    Mir kamen unsere DDR-Besuche auch nie bedrueckend vor.
    Bei meinen Grosseltern wurde immer viel gelacht und gut gegessen.
    Mir fiel es leichter, in Pegau Anschluss zu finden als in meiner neuen Schulklasse.
    Junge Menschen kamen mehr auf mich zu als im Westen.
    Trotz alldem konnte von einer "bedrückenden Atmosphäre", wie diese oft im Westen kolportiert wurde, keine Rede sein. Man machte aus der Situation das Beste, half sich gegenseitig und hatte hüben wie drüben seine privaten Freuden und auch Sorgen.

    www.youtube.com/watch?v=QHY1Ky8oC2w
    www.youtube.com/watch?v=9WzYEjR_rAU