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    Montag, 15. Mai 2023, 16:16

    The American Corner - TV als knallharter Konkurrenzkampf. Zur Fernsehgeschichte der USA

    Im Vergleich zu Deutschland existieren in den Vereinigten Staaten wesentlich mehr Fernsehsender; die meisten von ihnen auf privater, profitorientierter Basis, darunter hunderte von regionalen und lokalen Stationen insbesondere in allen größeren Städten und in vielen Counties, die in etwa unseren Landkreisen entsprechen. Die schiere Menge an TV- Sendern allein garantiert jedoch noch lange keine Programm- und Informationsvielfalt, da die meisten kleineren Sender einem der fünf großen Networks angeschlossen sind und als "Affiliates" deren Nachrichtenprogramme übernehmen. Traditionell existieren die kommerziellen Networks NBC, CBS, ABC, FOX und seit 2006 auch The CW, das zu CBS und Time Warner gehört. Daneben hat das öffentliche Public Broadcasting Network (PBS), das weitgehend aus Steuermitteln finanziert wird, in allen Bundesstaaten Partnerstationen. Darüber hinaus senden hunderte Kabelkanäle meist Spartenprogramme wie Nachrichten, Kinderprogramme, Sexinhalte, religiöse Programme oder nicht- englischsprachige Sendungen via Satellit oder IPTV.
    Wie entstand das Fernsehen in den USA ? Seit den späten 30er Jahren wurden mehrere Übertragungswege für diverse Fernsehprogramme entwickelt. Breiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung wurden diese Anfang der 50er Jahre durch die beiden Medienkonzerne "Radio Corporation of Amerika" (zu NBC gehörend) und CBS zugänglich gemacht. Hinzu kam, daß WBAL-TV aus Baltimore/ Maryland die erste Fernsehstation war, die bereits ab 1952 ihr Programm in Farbe ausstrahlte. Die Entwicklung hin zur Fernsehunterhaltung nahm in den USA einen derart rasanten Verlauf, daß bereits Mitte der 50er Jahre rund die Hälfte aller amerikanischen Haushalte einen Fernseher besaß und um 1960 eine annähernde Vollversorgung mit Empfangsgeräten herrschte. Die meisten davon waren Schwarzweißgeräte, da es zwar bereits Farbempfänger gab, die damals aber noch unverhältnismäßig teuer waren. Hinzu kam, daß bis weit in die 60er Jahre nur wenige US- Sender ihre Programme auf Farbempfang umstellten.
    Viele der Sendungen aus den Pionierjahren des amerikanischen Fernsehens waren Fernsehadaptionen gut etablierter Radioshows der 30er und 40er Jahre. Sehr beliebt waren zu dieser Zeit Comedyshows und Sitcoms wie "I Love Lucy", "I Married Joan" und "My Little Margie". Diese verlagerten ihren Schwerpunkt zunehmend auf das Fernsehen, da es mit Hilfe dieses Mediums deutlich einfacher war, den Witz durch den Einsatz von Gestik, Mimik oder Slapstick darzustellen. Auch wurden viele ursprünglich in den Kinos als Beiprogramme gesendeten Filme wie "The Looney Tunes" oder "The Three Stooges" nun via TV gesendet. Weitere populäre Genres des aufblühenden amerikanischen Fernsehens waren Talkshows, Westernserien, Suspense Thrillers wie "The Twilight Zone" und Daily Soaps. Dagegen fanden die zu Radiozeiten äußerst populären Genres der Big Band- Unterhaltungen im Fernsehen größtenteils keine Fortsetzung mehr. Eine Ausnahme davon bildete die "Lawrence Welk Show", die zwischen 1951 und 1982 lief und bis heute in zahlreichen Wiederholungen ausgestrahlt wird. Auch die beliebten Saturday morning cartoons wurden in diesen frühen Jahren erstmals ausgestrahlt.
    In den 70er Jahren kam das Kabelfernsehen in den gesamten USA auf und gab den Medienfirmen die Möglichkeit, eigene Kanäle zu etablieren, die sie im Gegensatz zu den Affiliates nahezu vollständig kontrollieren konnten. Somit profitierten sie auch in vollem Umfang von deren Einnahmen durch Werbung und Kabeleinspeisegebühren. Die zahlreich enstandenen Kabelkanäle führten zu deutlich mehr Spartenangeboten, da deren Regulierung durch die FCC wesentlich laxer war.
    Am 1. Juni 1980 nahm Cable News Network (CNN) seinen Betrieb in Atlanta/ Georgia auf, während es bis dahin fast ausschließlich Nachrichten in den abendlichen 30 Minuten- Nachrichtensendungen gegeben hatte. 1983 kaufte Ted Turner den CNN- Hauptkonkurrenten, den Satellite News Channel von ABC.
    Gleichfalls Anfang der 80er Jahre gewann das Konzept des Bezahlfernsehens in den Vereinigten Staaten an Popularität, und bereits 1987 verfügten rund dreißig Prozent der amerikanischen Haushalte über ein oder mehrere Abonnements. Allerdings führte dies auch zu einer zunehmenden Verflachung des Programmangebots, da aufgrund der nun verschärften Konkurrenzsituation die Zahl der beliebten Seifenopern und Spielshows zunahm, während anspruchsvollere Genres zunehmend verdrägt wurden und vom Bildschirm verschwanden. Auch nahm die Zahl der Daily Talkshows zu, von denen allerdings gegen Ende der 90er Jahre , nachdem sich dieses Konzept zunehmend totgelaufen hatte, viele wieder abgesetzt und vermehrt durch Gerichtsshows ersetzt wurden. In diesem Zeitrahmen erreichte die Reichweite des amerikanischen Fernsehens mit 98,4 Prozent ihren größten Umfang, bevor nach der Jahrtausendwende die Ära der Streaming- Dienste begann.

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    Montag, 15. Mai 2023, 20:52

    Das US Fernsehen ging uebrigens schon 1948 los, nicht erst in den 50er Jahren.
    https://www.encyclopedia.com/history/cul…0s-tv-and-radio
    Ich lebe seit 21 Jahren in den USA und zuerst gefielen mir der History Channel und AMC am besten. Leider wandelte sich AMC dann mehr und mehr zu einem Spielfilmsender mit neueren Produktionen, aber da entdeckte ich TCM (bis heute mein Lieblingssender, 24 Stunden am Tag alte US Filme ohne Werbung).
    Der Discovery Channel hat ab und zu gute Dokus, ist aber auch nicht mehr so interessant wie noch vor 8 oder 10 Jahren.
    Der Life Time Channel hat hin und wieder spannende TV Thriller fuer Frauen.

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    Montag, 15. Mai 2023, 20:55

    BritBox

    Wir schauen uns fast nur noch aeltere Serien wie "Cold Case" und "Law & Order" auf Hulu, Roku, BritBox an oder classic TV series auf TVLand und FETV. Frueher gab es Cozy TV, da lief "Lassie".

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    Freitag, 19. Mai 2023, 15:51

    The American Corner - Martin Waldseemüller oder: Wie Amerika zu seinem Namen kam

    Im Jahre 1493 erschien in Nürnberg eine der bedeutendsten Inkunabeln der frühen Neuzeit unter dem Titel "Schedelsche Weltchronik", die sowohl in lateinischer als auch in deutscher Sprache verfaßt wurde. Das Werk enthielt über 1800 Holzschnittillustrationen aus der Werkstatt von Christian Wolgemut, wobei vermutet wird, daß einige davon durchaus auch von Albrecht Dürer höchstselbst angefertigt worden sein könnten. Desweiteren wurde allen Ausgaben sowohl eine Europakarte als auch eine Weltkarte beigefügt. Auf der Weltkarte wurde der Doppelkontinent Amerika allerdings noch nicht abgebildet , da dessen Existenz einer breiten europäischen Öffentlichkeit erst bekannt wurde, nachdem Amerigo Vespucci in seinen Publikationen über seine Südamerika- Expedition 1501/1502 darüber berichtet hatte.
    Wie kam es dazu ? Im Sommer 1492 brach Christoph Kolumbus mit den Karavellen "Santa Maria", "Nina" und "Pinta" von Europa aus nach Westen auf, um im Auftrag der spanischen Krone einen Seeweg nach Indien zu erkunden, von dem man sich erhebliche Handelsvorteile erhoffte. Nach gut zwei Monaten stießen er und seine Mannschaft tatsächlich auf Land, allerdings nicht auf Indien, obwohl er das bis zu seinem Lebensende unerschütterlich glaubte. Kolumbus und seine Männer stießen stattdessen auf einen neuen, großen, namenlosen Kontinent, der den Seeweg nach Indien blockierte.
    Vielen Gelehrten, Seefahrern und Abenteurern in Europa wurde relativ schnell klar, daß hier etwas Großes, Neues in der Luft lag: eine neue Welt ! Bereits kurz nach seiner Rückkehr im Jahre 1493 wurde Kolumbus von eingeweihten Kreisen als "novi orbis repetor" (Entdecker einer neuen Welt) bezeichnet. Doch Kolumbus negierte diese Ansicht mit äußerster Hartnäckigkeit und behauptete nach wie vor, im östlichen Teil Indiens gewesen zu sein. Fast vergessen verstarb der Entdecker der "Neuen Welt" bereits im Jahre 1506.
    In den Folgejahren machten sich weitere Abenteurer auf den Weg über den Atlantik, unter ihnen auch der Kaufmann Amerigo Vespucci aus der italienischen Stadt Florenz. Vespucci segelte im Jahre 1501 zweimal an der brasilianischen Küste entlang. Zwar war er kein erfahrener und kenntnisreicher Seefahrer, jedoch in der Lage, seine Erkenntnisse erfolgreich zu publizieren. Das Entscheidende war jedoch, daß er der erste Europäer war, der in seinen Berichten diesen fernen Kontinent als eigenen Erdteil bezeichnete, der mit Indien nichts zu tun hatte. Bis heute ist unter Historikern umstritten, wieviel Wahrheit in Vespucci´s Berichten steckt und was er sich schlichtweg nur ausgedacht hatte. Unumstritten ist jedoch, daß im Jahre 1507 die deutschen Kartographen Martin Waldseemüller und Matthias Ringmann die von ihnen verlegten Weltkarten auf den neuesten Stand brachten und den neuentdeckten Kontinent nach den Berichten Amerigo Vespucci´s "AMERIKA" nannten. Einige Jahrzehnte später übertrug der berühmte flämische Kartograph Gerhard Mercator dann diese Bezeichnung im Jahre 1538 auf den gesamten Doppelkontinent. Zwar schlugen einige damalige Zeitgenossen vor, die "Neue Welt" in "Kolumba" oder "Kolumbia" zu Ehren von Christoph Kolumbus umzubenennen, doch diese Bezeichnungen konnten sich nicht durchsetzen, und so blieb es letztendlich bei "Amerika".

    www.youtube.com/watch?v=uewMLHuS4g0

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    Samstag, 20. Mai 2023, 19:37

    RE: The American Corner - Martin Waldseemüller oder: Wie Amerika zu seinem Namen kam

    Ganz toller Artikel, Uwe!
    Die Einzelheiten kannte ich noch nicht.
    Kennst Du die Jugendbuecher von Hans-Otto Meissner aus dem Klett Verlag? Er schrieb vier Buecher ueber USA Entdecker:
    • Kundschafter am St. Lorenzstrom: Champlain 1609. Cotta, Stuttgart 1966.
    • Im Alleingang zum Mississippi: Radisson 1660. Cotta, Stuttgart 1966.
    • Louisiana für meinen König: La Salle 1682. Cotta, Stuttgart 1966.
    • ... immer noch 1000 Meilen zum Pazifik: Mackenzie

    https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Otto_Meissner

    Ich habe sie alle vier, las aber bisher nur das Buch ueber Champlain. Es ist wirklich fesselnd geschrieben.
    Im Jahre 1493 erschien in Nürnberg eine der bedeutendsten Inkunabeln der frühen Neuzeit unter dem Titel "Schedelsche Weltchronik", die sowohl in lateinischer als auch in deutscher Sprache verfaßt wurde. Das Werk enthielt über 1800 Holzschnittillustrationen aus der Werkstatt von Christian Wolgemut, wobei vermutet wird, daß einige davon durchaus auch von Albrecht Dürer höchstselbst angefertigt worden sein könnten. Desweiteren wurde allen Ausgaben sowohl eine Europakarte als auch eine Weltkarte beigefügt. Auf der Weltkarte wurde der Doppelkontinent Amerika allerdings noch nicht abgebildet , da dessen Existenz einer breiten europäischen Öffentlichkeit erst bekannt wurde, nachdem Amerigo Vespucci in seinen Publikationen über seine Südamerika- Expedition 1501/1502 darüber berichtet hatte.

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    Samstag, 20. Mai 2023, 20:14

    Hans- Otto Meissner und Bertelsmann

    Das Buch von H.-O. Meissner "...immer noch 1000 Meilen bis zum Pazifik" hatte ich als Bertelsmann- Clubausgabe in meiner Jugendsammlung. Wer Mitglied im Bertelsmann- Buchclub war, mußte ja bekanntlich vierteljährlich etwas bestellen oder bekam ansonsten einen Auswahlband zugesandt. Verlegerisch waren die Bertelsmann- Produkte in den 60er Jahren nicht schlecht, nur werden sie heute von Sammlern eher mit spitzen Fingern angefaßt, u.a. weil die Auflagen sehr hoch waren und die Bücher als Zweit- oder Drittverwertung gelten.

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    Samstag, 20. Mai 2023, 20:21

    Die Weltkarte von Waldseemüller

    Die Weltkarte von Waldseemüller mit der erstmaligen Darstellung Amerikas existiert nur noch in einem einzigen Exemplar. Unser "Bundesgerd" hat es tatsächlich fertiggebracht, dieses Unikat vor zwanzig Jahren für nur zehn Millionen Dollar an die Amerikaner zu verscherbeln. Soweit ich weiß, befindet sich die Karte heute in der Library of Congress. Für die Amerikaner hat das Werk natürlich als quasi "Gründungsinkunabel" eine wesentlich höhere Bedeutung als für uns, von daher erklärt sich auch deren erhöhtes Interesse.

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    Montag, 22. Mai 2023, 16:55

    RE: Hans- Otto Meissner und Bertelsmann

    Und das kann ich ehrlich gesagt nicht verstehen. Immerhin waren die Bertelsmann Buecher gebunden und der Text unveraendert. Was also haben Sammler dagegen einzuwenden?
    Verlegerisch waren die Bertelsmann- Produkte in den 60er Jahren nicht schlecht, nur werden sie heute von Sammlern eher mit spitzen Fingern angefaßt, u.a. weil die Auflagen sehr hoch waren und die Bücher als Zweit- oder Drittverwertung gelten.

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    Montag, 22. Mai 2023, 16:56

    RE: Die Weltkarte von Waldseemüller

    Zu dumm, dass ich das nicht im Maerz wusste!
    Wir machten eine Besichtigung des Capitols mit, das direkt neben der Library of Congress steht.
    Die Weltkarte von Waldseemüller mit der erstmaligen Darstellung Amerikas existiert nur noch in einem einzigen Exemplar. Unser "Bundesgerd" hat es tatsächlich fertiggebracht, dieses Unikat vor zwanzig Jahren für nur zehn Millionen Dollar an die Amerikaner zu verscherbeln. Soweit ich weiß, befindet sich die Karte heute in der Library of Congress. Für die Amerikaner hat das Werk natürlich als quasi "Gründungsinkunabel" eine wesentlich höhere Bedeutung als für uns, von daher erklärt sich auch deren erhöhtes Interesse.

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    Montag, 22. Mai 2023, 17:59

    RE: RE: Hans- Otto Meissner und Bertelsmann

    Und das kann ich ehrlich gesagt nicht verstehen. Immerhin waren die Bertelsmann Buecher gebunden und der Text unveraendert. Was also haben Sammler dagegen einzuwenden?
    Verlegerisch waren die Bertelsmann- Produkte in den 60er Jahren nicht schlecht, nur werden sie heute von Sammlern eher mit spitzen Fingern angefaßt, u.a. weil die Auflagen sehr hoch waren und die Bücher als Zweit- oder Drittverwertung gelten.


    Die meisten Sammler wollen halt das Original, möglichst als Erstauflage, und nicht den soundsovielten Aufguß eines "Volksbuchhändlers". Gut für diejenigen, die reines Lesefutter für kleines Geld bekommen möchten. ;)

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    Heute, 16:49

    The American Corner - Gelehrter, Politstar oder zwielichtige Persönlichkeit ? Zum Hundertsten von Henry Kissinger

    Ein Emigrant aus Fürth in Bayern, der bis zum Nationalen Sicherheitsberater der USA aufstieg, ein Professor, der bei den Linken zur politischen Haßfigur wurde: Heinz Alfred Kissinger, genannt Henry, hat bis heute alle Anfeindungen überstanden und wurde am 27. Mai 2023 hundert Jahre alt.
    Geboren wurde er am 27. Mai 1923 in Fürth als Sohn des jüdischen Gymnasiallehrers für Erdkunde und Geschichte Louis Kissinger. Seine Mutter, eine Tochter aus wohlhabendem Hause, erzog ihre Söhne Heinz und Walter. In späteren Jahren erinnerte sich Henry, wie er sich nun in Amerika nannte, an eine große Bibliothek, in der er gerne versank, wenn er nicht gerade im Mittelfeld oder als Torwart Fußball spielte.
    Im Jahre 1923, dem Geburtsjahr des Jubilars, stand Deutschland noch ganz im Bann des verlorenen Ersten Weltkriegs und von Revolution und Gegenrevolution. Heinz Alfred war knapp zehn, als Hitler an die Macht kam, und fünfzehn, als seine Familie 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierte. Seine spätere Vorliebe für den österreichischen Staatskanzler Metternich und sein systematisches Ordnungsdenken erklären sich durchaus plausibel aus seinen frühen Kindheits- und Jugenderlebnissen. Ein starker, zivilisierter, demokratisch regierter Staat erschien ihm unabdingbar, um Gesellschaften an politischen Exzessen zu hindern, wie er sie in seinen frühen Jahren erfahren hatte. Das Exil für seine Familie, die das Unheil noch rechtzeitig erahnte, sollte Amerika werden. Für den hochbegabten und in Windeseile studierenden Heinz Alfred erschien ihm die Neue Welt wie eine Traumlandschaft, in der ihm mehr gelang, als er sich ursprünglich vorgenommen hatte. Denn als Jude an einer Elite- Universität wie Harvard eine Professur zu erhalten, war noch in den 50er Jahren in den USA eher die Ausnahme als die Regel. Aber Dr. K., wie er von seinen Studenten genannt wurde, galt als brilliant und zog zahlreiche kaum minder begabte Menschen geradezu magnetisch an. Um die Teilnahme an seinen internationalen Sommerseminaren rissen sich die zukünftigen Professoren und Chefredakteure aus ganz Europa. Dr. K. wurde zum Universitätsstar, der nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart verstehen wollte. In der Gegenwart seiner Jahre standen sich zwei nuklear hochgerüstete Supermächte feindlich gegeüber, und so befaßte er sich mit der "Philosophie der Abschreckung" zur letztendlichen Vermeidung der gegenseitigen Vernichtung. Selbst in dem deutschen politischen Shooting Star der Nachkriegszeit, Helmut Schmidt, fand er einen eifrigen Leser, der später zum Freund werden sollte.
    Henry Kissinger dachte nicht nur über Geschichte nach, ihn trieb es auch dazu, Geschichte zu machen, denn Macht war für ihn eine Art Aphrodisiakum, wie er selbst einmal scherzhaft in einem seiner Interviews zugab. Dabei sollte sich herausstellen, daß auch ein nach demokratischen Prinzipien regierter Staat als "Superpower" zu Exzessen fähig sein konnte, wie sich in Kissingers Zeit als Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Richard M. Nixon zeigen sollte. Nixon kam im Jahre 1968 nach dem Abgang des mürbe gewordenen Lyndon B. Johnson an die Macht. Kissinger, der Nixon bisher eher mit Verachtung gestraft hatte, wurde zu seiner eigenen Überraschung sein wichtigster Mitarbeiter mit außergewöhnlichen Befugnissen. Zwar hätte es 1968 vielleicht die Möglichkeit gegeben, den zu diesem Zeitpunkt von der Mehrheit der Amerikaner ungewollten Vietnamkrieg zu beenden. Aber das Duo Nixon/ Kissinger dachte sich eine erstaunliche Logik aus: um den Krieg "ehrenhaft" zu beenden, sollte "Vietnam" zunächst noch einmal eskaliert werden, und dies vor allem durch verstärkte Luftangriffe und die Ausweitung des Krieges auf das neutrale Kambodscha, das zu diesem Zeitpunkt zweifelsohne als Aufmarsch-, Rückzugs- und Nachschubgebiet der Nordvietnamesen galt. Für ein diktatorisches Regime hätte dies kein größeres Problem dargestellt, doch für die Vereinigten Staaten bedeutete es damals den Bruch mit dem Völkerrecht. Knapp 60.000 GI´s starben in diesen Kämpfen, und drei Millionen Vietnamesen, davon zwei Millionen Zivilisten, verloren ihr Leben im "Ringen der freien Welt mit dem Kommunismus", so wie es Nixon und Kissinger sahen. Beide unterstellten der VR China sowie der Sowjetunion, die Nordvietnam mehr oder weniger offen unterstützten, einen Stellvertreterkrieg (der er zweifelsohne war) mit dem Ziel der Eroberung der Weltherrschaft (über die man streiten kann).
    Im Jahre 1973 erhielt Henry Kissinger dennoch für die vorläufige Beendigung des ersten asymmetrischen Kriegs der Weltgeschichte den Friedensnobelpreis. Im gleichen Jahr wurde er für vier Jahre Außenminister unter Richard Nixon und Gerald Ford, bahnte die Entspannungspolitik mit der VR China und der Sowjetunion an und hätte eigentlich hierfür den Nobelpreis verdient, denn diese Entwicklung gilt vielen als seine mit Abstand größte politische Leistung.
    Jetzt ist Henry Kissinger gigantische hundert Jahre alt geworden und hat alle überlebt: seine zahlreichen Gegner, seine erklärten Feinde, auch seine Verächter, die ihn z.B. 1973 für den Putsch und den Tod Salvador Allendes in Chile verantwortlich machten. Noch immer ist er neugierig, reist komfortabel um die Welt und wird "gebucht". Im Herbst will er Deutschland besuchen, denn seine Heimatstadt Fürth will ihm zum Hundertsten die besondere Ehre erweisen. Vor kurzem veröffentlichte er wieder einen dicken Wälzer, den er "Staatskunst" betitelte. Darin beschreibt und beurteilt er die Großen seiner Zeit, von De Gaulle über Konrad Adenauer bis hin zu Lee Kuan Yew, den legendären chinesischen Staatsgründer Singapurs. Auch plädiert er dafür, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Dabei geht es ihm interessanterweise weniger um den Schutz dieses Landes vor Rußland, sondern um den Schutz Europas vor Zumutungen, weil dann die eingebundene Ukraine keine territorialen Rückgabeforderungen mehr an Rußland stellen könne. Aus der Sicht Kissingers sollte die Ukraine freiwillig auf die überwiegend von ethnischen Russen besiedelte Krim verzichten, da sonst ein ständiger Unruheherd bestehen bliebe. Und da schimmert es wieder einmal hervor, das Metternich´sche Ordnungsdenken, dem immer auch ein Macchiavelli beiwohnt, für den Moral nie eine politische Kategorie war.

    www.youtube.com/watch?v=KnJeo6yCmWs
    www.youtube.com/watch?v=0nuYiLWwFdo