Ein Emigrant aus Fürth in Bayern, der bis zum Nationalen Sicherheitsberater der USA aufstieg, ein Professor, der bei den Linken zur politischen Haßfigur wurde: Heinz Alfred Kissinger, genannt Henry, hat bis heute alle Anfeindungen überstanden und wurde am 27. Mai 2023 hundert Jahre alt.
Geboren wurde er am 27. Mai 1923 in Fürth als Sohn des jüdischen Gymnasiallehrers für Erdkunde und Geschichte Louis Kissinger. Seine Mutter, eine Tochter aus wohlhabendem Hause, erzog ihre Söhne Heinz und Walter. In späteren Jahren erinnerte sich Henry, wie er sich nun in Amerika nannte, an eine große Bibliothek, in der er gerne versank, wenn er nicht gerade im Mittelfeld oder als Torwart Fußball spielte.
Im Jahre 1923, dem Geburtsjahr des Jubilars, stand Deutschland noch ganz im Bann des verlorenen Ersten Weltkriegs und von Revolution und Gegenrevolution. Heinz Alfred war knapp zehn, als Hitler an die Macht kam, und fünfzehn, als seine Familie 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierte. Seine spätere Vorliebe für den österreichischen Staatskanzler Metternich und sein systematisches Ordnungsdenken erklären sich durchaus plausibel aus seinen frühen Kindheits- und Jugenderlebnissen. Ein starker, zivilisierter, demokratisch regierter Staat erschien ihm unabdingbar, um Gesellschaften an politischen Exzessen zu hindern, wie er sie in seinen frühen Jahren erfahren hatte. Das Exil für seine Familie, die das Unheil noch rechtzeitig erahnte, sollte Amerika werden. Für den hochbegabten und in Windeseile studierenden Heinz Alfred erschien ihm die Neue Welt wie eine Traumlandschaft, in der ihm mehr gelang, als er sich ursprünglich vorgenommen hatte. Denn als Jude an einer Elite- Universität wie Harvard eine Professur zu erhalten, war noch in den 50er Jahren in den USA eher die Ausnahme als die Regel. Aber Dr. K., wie er von seinen Studenten genannt wurde, galt als brilliant und zog zahlreiche kaum minder begabte Menschen geradezu magnetisch an. Um die Teilnahme an seinen internationalen Sommerseminaren rissen sich die zukünftigen Professoren und Chefredakteure aus ganz Europa. Dr. K. wurde zum Universitätsstar, der nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart verstehen wollte. In der Gegenwart seiner Jahre standen sich zwei nuklear hochgerüstete Supermächte feindlich gegeüber, und so befaßte er sich mit der "Philosophie der Abschreckung" zur letztendlichen Vermeidung der gegenseitigen Vernichtung. Selbst in dem deutschen politischen Shooting Star der Nachkriegszeit, Helmut Schmidt, fand er einen eifrigen Leser, der später zum Freund werden sollte.
Henry Kissinger dachte nicht nur über Geschichte nach, ihn trieb es auch dazu, Geschichte zu machen, denn Macht war für ihn eine Art Aphrodisiakum, wie er selbst einmal scherzhaft in einem seiner Interviews zugab. Dabei sollte sich herausstellen, daß auch ein nach demokratischen Prinzipien regierter Staat als "Superpower" zu Exzessen fähig sein konnte, wie sich in Kissingers Zeit als Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Richard M. Nixon zeigen sollte. Nixon kam im Jahre 1968 nach dem Abgang des mürbe gewordenen Lyndon B. Johnson an die Macht. Kissinger, der Nixon bisher eher mit Verachtung gestraft hatte, wurde zu seiner eigenen Überraschung sein wichtigster Mitarbeiter mit außergewöhnlichen Befugnissen. Zwar hätte es 1968 vielleicht die Möglichkeit gegeben, den zu diesem Zeitpunkt von der Mehrheit der Amerikaner ungewollten Vietnamkrieg zu beenden. Aber das Duo Nixon/ Kissinger dachte sich eine erstaunliche Logik aus: um den Krieg "ehrenhaft" zu beenden, sollte "Vietnam" zunächst noch einmal eskaliert werden, und dies vor allem durch verstärkte Luftangriffe und die Ausweitung des Krieges auf das neutrale Kambodscha, das zu diesem Zeitpunkt zweifelsohne als Aufmarsch-, Rückzugs- und Nachschubgebiet der Nordvietnamesen galt. Für ein diktatorisches Regime hätte dies kein größeres Problem dargestellt, doch für die Vereinigten Staaten bedeutete es damals den Bruch mit dem Völkerrecht. Knapp 60.000 GI´s starben in diesen Kämpfen, und drei Millionen Vietnamesen, davon zwei Millionen Zivilisten, verloren ihr Leben im "Ringen der freien Welt mit dem Kommunismus", so wie es Nixon und Kissinger sahen. Beide unterstellten der VR China sowie der Sowjetunion, die Nordvietnam mehr oder weniger offen unterstützten, einen Stellvertreterkrieg (der er zweifelsohne war) mit dem Ziel der Eroberung der Weltherrschaft (über die man streiten kann).
Im Jahre 1973 erhielt Henry Kissinger dennoch für die vorläufige Beendigung des ersten asymmetrischen Kriegs der Weltgeschichte den Friedensnobelpreis. Im gleichen Jahr wurde er für vier Jahre Außenminister unter Richard Nixon und Gerald Ford, bahnte die Entspannungspolitik mit der VR China und der Sowjetunion an und hätte eigentlich hierfür den Nobelpreis verdient, denn diese Entwicklung gilt vielen als seine mit Abstand größte politische Leistung.
Jetzt ist Henry Kissinger gigantische hundert Jahre alt geworden und hat alle überlebt: seine zahlreichen Gegner, seine erklärten Feinde, auch seine Verächter, die ihn z.B. 1973 für den Putsch und den Tod Salvador Allendes in Chile verantwortlich machten. Noch immer ist er neugierig, reist komfortabel um die Welt und wird "gebucht". Im Herbst will er Deutschland besuchen, denn seine Heimatstadt Fürth will ihm zum Hundertsten die besondere Ehre erweisen. Vor kurzem veröffentlichte er wieder einen dicken Wälzer, den er "Staatskunst" betitelte. Darin beschreibt und beurteilt er die Großen seiner Zeit, von De Gaulle über Konrad Adenauer bis hin zu Lee Kuan Yew, den legendären chinesischen Staatsgründer Singapurs. Auch plädiert er dafür, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Dabei geht es ihm interessanterweise weniger um den Schutz dieses Landes vor Rußland, sondern um den Schutz Europas vor Zumutungen, weil dann die eingebundene Ukraine keine territorialen Rückgabeforderungen mehr an Rußland stellen könne. Aus der Sicht Kissingers sollte die Ukraine freiwillig auf die überwiegend von ethnischen Russen besiedelte Krim verzichten, da sonst ein ständiger Unruheherd bestehen bliebe. Und da schimmert es wieder einmal hervor, das Metternich´sche Ordnungsdenken, dem immer auch ein Macchiavelli beiwohnt, für den Moral nie eine politische Kategorie war.
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